- von LOKALSPORT - über SPORT REGIONAL - bis SPORT INTERNATIONAL -

DIE HOCHBEGABTE AUF DER GROSSEN BÜHNE

Olympische Spiele Paris 2024, Tischtennis-Wettbewerbe (27. Juli bis 10. August) * * *  Sie ist eigentlich Rechtshänderin, ein Swiftie und Kind des Social-Media-Zeitalters und falls ihr Tischtennis alleine nicht reichen sollte, wird sie Kriminologin. Eine Personalgeschichte über Annett Kaufmann* * *

Annett Kaufmann (c) DTTB

PARIS. Tamara Boros erinnert sich noch gut an das erste Spiel, in dem sie Annett Kaufmann betreut hat. Bei einer Jugend-EM 2018 war das. Kaufmann war zwölf Jahre alt und hatte in der Runde der besten 32 einen Satz gegen die drei Jahre ältere Litauerin Emilija Riliskyte verloren. „Sie kam in der Satzpause zu mir und hat aufgezählt, was sie alles falsch gemacht hat und wie sie eigentlich spielen müsste. Ich habe nur zugehört und am Ende gesagt: genau richtig“, beschreibt die Damen-Bundestrainerin im Fachmagazin „tischtennis“. „Das war schon sehr beeindruckend.“ Und es ist nicht leicht, jemanden zu beeindrucken, der die langjährige beste Nicht-Chinesin in der Welt war und 2003 für ihr Heimatland Kroatien WM-Bronze im Einzel geholt hat.

Die Fähigkeit, das Spiel zu lesen, war schon damals ausgeprägt bei Annett Kaufmann und zählt auch heute noch zu den großen Stärken des Teenagers neben ihrem Spielwitz, ihrem unbedingten Siegeswillen und der „hochqualitativen Rückhand“ (Zitat DTTB-Sportdirektor Richard Prause). Mit ihrer krachenden Vorhand, die sie in Paris an den Tag legt, lehrte sie ihre fünf älteren und viel erfahreneren Gegnerinnen ebenfalls das Fürchten: Rachel Sung (USA, Weltrangliste: 247, 20 Jahre), Lily Zhang (USA, WR: 27, 28 Jahre), Manika Batra (Indien, WR: 25, 29 Jahre), Sreeja Akula (Indien, 22, 26 Jahre) und am Donnerstagabend auch Miwa Harimoto. Die Japanerin ist die Nummer acht der Welt und zugegeben erst 16 Jahre alt, hat aber mit zwei Jahren und als Kind zweier ehemaliger chinesischer Jugend-Nationalspieler und Trainer mit dem Tischtennis begonnen und mit Tomokazu einen Weltklassespieler als älteren Bruder.

Schon mit zehn Jahren bei DTTB-Lehrgängen

Auch, wenn es für die Öffentlichkeit so erscheinen mag und sie ursprünglich nur als Ergänzungsspielerin zum Sammeln olympischer Erfahrung hätte mitreisen sollen: Annett Kaufmann und ihr Erfolg kommen nicht aus dem Nichts.

Sie wurde schon mit zehn Jahren zu Lehrgängen des Deutschen Tischtennis-Bundes eingeladen, um sie frühzeitig zu fördern. Das große Talent durchlief die gesamte nationale Kaderstruktur im Nachwuchsbereich. Ihre Coaches ließen sie früh mit Älteren trainieren, „überlappendes Training“ nennt das das DTTB-Bundestrainer-Team. Ihr standen in ihrer jungen Karriere viele erfahrene Coaches zur Seite von Sönke Geil, der als Sportdirektor von Tischtennis Baden-Württemberg im April in Rente gegangen ist, über Evelyn Simon von der privaten Tischtennis-Förderstiftung Compass bis hin zu Jie Schöpp (U15), Lara Broich (U19) und Tamara Boros beim DTTB.

Für mich ist diese Vielfalt ein Vorteil, weil sie alle sehr viel Erfahrung haben, sehr gute Spieler waren und mir in schwierigen Situationen helfen können, falls ich mal nicht weiterweiß“, sagt Kaufmann. Außerdem hat sie eine weitere begabte Trainerin an ihrer Seite. Ihre vier Jahre ältere Schwester Alexandra nämlich. Selbst ehemalige DTTB-Nachwuchskaderspielerin schloss die Lehramtsstudentin (Geschichte, Sport) im vergangenen Jahr als eine der jüngsten Teilnehmerinnen überhaupt erfolgreich die Trainer-Ausbildung zur A-Lizenz ab. Als Teil des DTTB-Trainer-Förderkonzepts 2.0. war sie unter anderem zu Fortbildungszwecken zu Besuch in Montpellier in der Trainingsgruppe der Lebrun-Brüder, die mit ihren Erfolgen bei den Sommerspielen gerade ganz Frankreich verzücken.

Mit vier Jahren zum Tischtennis

Alexandra Kaufmann war es auch, die Annett überhaupt zum Tischtennis gebracht hat. Sie hatte den Sport als Erste in der Familie für sich entdeckt. Als sie von einem Turnier mit einem Pokal dekoriert nach Hause kam, war das Feuer der kleinen Schwester, die der großen nacheifern wollte, entfacht. Im Alter von vier Jahren machte Annett die ersten Schritte in ihrem neuen Sport beim TTC Bietigheim-Bissingen, mit dem sie später bis in die 3. Bundesliga aufsteigen sollte.

Auch ihre Eltern spielen eine wichtige Rolle in ihrer Karriere. Mutter Anna und Vater Andrej, beide in Kasachstan geboren und aufgewachsen, waren selbst Leistungssportler. „Dieser Support, den ich von meinen Eltern und meiner Schwester bekomme, gibt mir Kraft und ist nicht selbstverständlich“, sagt die 1,85 Meter große jüngste Tochter. „Sie verstehen mich daher sehr gut und können Phasen, die ich durchlaufe, gut nachempfinden.“ Die Mutter war erfolgreiche Skirennläuferin, der Vater Eishockey-Profi. Beide haben in ihrer Heimat Sportwissenschaften studiert und sind diplomierte Trainer.

Nicht das Wintersport-Gen, aber die Coolness

Warum die Töchter bei diesen Genen keine Wintersportler geworden sind, erklärt Annett Kaufman so: „Wir sind schon mal Schlittschuh gelaufen und hatten dabei einen Eishockey-Schläger in der Hand, haben aber nie in einer Mannschaft gespielt. Eishockey war nicht so unser Fall. Das ist schon ziemlich brutal. Tischtennis ist weniger gefährlich.“ Auf Skiern haben die Schwestern nie gestanden. „Es war schwierig, die Zeit zu finden, in einer Wintersaison Ski fahren zu gehen. Wir leben hier in Süddeutschland in einer Ecke, in der es keinen Schnee gibt und eben keine Möglichkeit, in der Nähe Ski zu fahren“, so Kaufmann. „Irgendwann wollten wir es in den Winterferien auch nicht mehr riskieren, weil da alles Mögliche passieren kann.“

Ihre Unbefangenheit am Tisch beim wichtigsten Turnier in der Sportwelt allerdings habe sie definitiv von ihrer Familie. „Ich habe die Coolness nicht explizit trainiert. Ich glaube, sie liegt auch daran, dass ich viel mit meiner Familie rede, in der alle aus dem Leistungssport kommen“, erklärt sie. „Meine Mutter ist dabei so ein bisschen meine Psychologin. Egal, wie ich spiele, versuche ich, selbstbewusst an den Tisch zu gehen und mir zu denken: Ich kann, was ich kann, denn sonst wäre ich nicht hier.“ Auch wenn die Profikarriere schon früh eine Option war, war der Familie wichtig, dass beide Kinder das Abitur zu machen. Vater Andrej musste nach seiner Sportkarriere mühsam eine Umschulung zum Industriemechaniker machen. Solche Umwege wollten die Eltern den Töchtern ersparen. „Man muss Annett aber manchmal etwas bremsen“, erzählte Mutter Anna dem Fachmagazin „tischtennis“. „Sie will in allem gut sein, hätte am liebsten in der Schule nur Einsen.“ Das sei nicht möglich und auch gar nicht nötig, findet die Mutter. Das Abitur bestand Annett Kaufmann in diesem Frühjahr mit einer 2,0 trotz haufenweiser Fehlstunden schon in frühester Jugend wegen zahlreicher Tischtennisturniere und -lehrgänge. Im Selbststudium holte sie den durch ihren Sport verpassten Stoff stets konsequent nach. Ihre Schulfreundinnen unterstützten sie dabei und hatten Verständnis dafür, dass private Treffen nie in der bei Teenagern gewohnten Häufigkeit stattfinden konnten.

Ein Kind des Social-Media-Zeitalters

Mit ihrem Geburtsjahr 2006 ist sie natürlich ein Kind des Social-Media-Zeitalters. Mit 14 hat sie ihren Sportlerinnen-Instagram-Account eröffnet und lässt die Welt seitdem dosiert und nicht selten mit einem Augenzwinkern an ihrer Entwicklung teilhaben. Sie hat keine Scheu vor Kameras und Mikrofonen und ist dabei trotzdem ungezwungen und unaufdringlich. Wenn sie redet, hören die Medien gerne zu, denn sie ist schlagfertig, witzig und hat etwas zu sagen. Sie lässt die Zuschauer an ihren lautstark ausgedrückten Emotionen teilhaben, ohne affektiert zu wirken und ohne einstudierte Posen. Hexenkessel-Atmosphäre wie in Paris hemmt sie nicht. Sie inspiriert sie und treibt sie zu Höchstleistungen an.

Sie stellt eine sympathische Kombination von Selbstbewusstsein und richtiger Einschätzung des bislang von ihr Erreichten zur Schau. Als sie von Journalisten direkt im Anschluss an die Japan-Partie auf die Schlagzeile angesprochen wird, sie sei der neue Timo Boll, antwortet sie: „Das finde ich zu viel. Natürlich fühle ich mich geehrt, wenn Leute mich als neuen Timo Boll bezeichnen, aber Timo ist eine Legende. Er hat so viele große Erfolge über die vielen Jahre erreicht.“ Natürlich seien es hier Olympische Spiele, aber die Performance von einem einzigen Turnier für einen solchen Vergleich heranzuziehen, würde der Sache nicht gerecht. „Ich möchte erst einmal meinen eigenen Weg gehen und meine Entwicklung beobachten. Wenn ich am Ende im selben Alter wie Timo genauso gut dastehe, dann kann man sagen: Okay, sie war wirklich die neue Timo Boll!“

Mit 13 Jahren in der Bundesliga, mit 15 jüngste U21-Europameisterin überhaupt

Mit 13 Jahren spielte sie für die SV Böblingen zum ersten Mal in der Bundesliga und blieb der Sportvereinigung bis zum Rückzug aus dem Damen-Oberhaus nach dem Ende der abgelaufenen Saison treu. Ab dieser Saison wird sie für den SV-DJK Kolbermoor im oberbayerischen Landkreis Rosenheim in der nationalen Liga an den Tisch gehen. Mit 14 gewann sie die Europarangliste in ihrer Altersklasse. Mit 15 Jahren wurde sie die jüngste U21-Europameisterin überhaupt und ist zusammen mit Einzel-Titeln bei Jugend 15 und 19 der kontinentale Nachwuchs-Champion aller Klassen.

Im September 2021 absolvierte Kaufmann ihr erstes Länderspiel bei den Damen. Beim Debüt im Trikot mit dem Adler auf dem Ärmel besiegte sie ihre Nervosität und ihre Kontrahentin Ema Labosova aus der Slowakei mit 3:0. Das war bei der Team-EM in Cluj, wo das deutsche Quartett nach den COVID-Spielen von Tokio ohne das Spitzen-Trio Ying Han, Xiaona Shan und Petrissa Solja auskommen musste und sensationell den Titel gewann. Das nächste Gold 2021 gab es am vierten Advent bei der Gala „Sportler des Jahres“ im Baden-Badener Kurhaus, als Kaufmann zur sportartübergreifenden „Newcomerin des Jahres“ gekürt wurde.

Bei den European Championships 2022, der Heim-EM in München, konnte sie sich mit zwei Erfolgen in der Qualifikation durchsetzen. Einen Monat später war sie Teil der Mannschaft bei der Team-WM in Chengdu, wo die DTTB-Damen Bronze gewannen, wenn auch ohne direkten Einsatz Kaufmanns am Tisch. Bei der Team-EM in Malmö 2023 gab es wieder Team-Gold, bei der Einzel-WM im südafrikanische Durban erreichte sie im Doppel an der Seite der EM-Dritten von München, Sabine Winter, das Achtelfinale. Auch bei der diesjährigen Team-WM in Südkorea war sie mit von der Partie und bekam ihren Einsatz in der Gruppenphase. Hier war für das DTTB-Quintett im Viertelfinale Schluss.

Dass die Trainer mir so früh das Vertrauen geschenkt haben, hat mir den Übergang von der Jugend- zur Erwachsenenklasse enorm erleichtert“

Dass die Trainer mir so früh das Vertrauen geschenkt und mich zu solchen Events mitgenommen haben, hat mir den Übergang von der Jugend- zur Erwachsenenklasse enorm erleichtert“, berichtet Kaufmann. An dieser Stelle trennt sich oft die sportliche Spreu vom Weizen. Die wenigsten in Kinder- und Jugendtagen erfolgreichen Nachwuchstalente schaffen den Sprung an die Spitze auch in den Erwachsenenklassen.

Im Januar dieses Jahr der nächste große Coup: Mit einem überraschenden Sieg über die Weltranglisten-18. Cheng I-Ching aus Taiwan gelang ihr beim WTT Contender Doha erstmals bei einem Turnier dieser gehobenen Kategorie auf der World-Table-Tennis-Tour der Sprung ins Viertelfinale. „Ich glaube, das war eines meiner besten Matches überhaupt. Ich bin sehr, sehr zufrieden“, kommentierte sie damals.

Ihre Einsätze bei den Damen haben die in ihrer Altersklasse zwar verringert. Bei den Jugend-Weltmeisterschaften 2023 war sie trotzdem am Start und holte mit Bronze in Nova Gorica ihre erste U19-WM-Medaille im Einzel, dazu noch Silber im Doppel und Mixed (mit Anna Hursey aus Wales bzw. Izaac Quek aus Singapur). Im Halbfinale lieferte sie der chinesischen Topfavoritin Kuai Man heftige Gegenwehr, musste der späteren U19-Weltmeisterin nach dem Duell auf Augenhöhe schließlich zum Sieg gratulieren. Auch dieser Erfolg ließ das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten steigen. In diesem Jahr im schwedischen Helsingborg, wird sie wieder bei der JWM an den Start gehen.

Profikarriere im Tischtennis, aber auch Plan B im Kopf

Mit dem Abitur in der Tasche wird es nach Olympia das Gespräch mit dem Bundestrainer-Team geben, wie und wo die Profikarriere Annett Kaufmanns ihren weiteren Verlauf finden wird. Es ist keine Drohung an die Sportwelt, aber die 18-Jährige hat einen Plan B im Kopf. „Wenn ich merke, dass ich zum Tischtennis eine Abwechslung brauche, dann würde ich in Betracht ziehen, mit einem Studium zu beginnen“, erklärte sie im Frühjahr auf der Website des Landessportverbands Baden-Württemberg und wurde konkret: „Entweder ich gehe zur Polizei im gehobenen Dienst als Kriminalkommissarin Richtung Kriminologie oder es wird ein Studium in die forensische Richtung.“ Das habe sie schon als Kind interessiert.

Und noch etwas weiß sie seit Kindertagen: Warum sie ihren Sport so mag nämlich. „Tischtennis macht Spaß und egal wie alt man ist: Tischtennis ist immer aufregend. Es passiert ständig etwas Neues und wird nie langweilig. Viele Faktoren spielen hinein wie Schnelligkeit, Reaktion oder Koordination. Das alles zusammenzubringen, ist einfach cool.“ Das zählte Annett Kaufmann in ihrem Bewerbungsvideo zur Sporthilfe-Wahl zur „Juniorsportlerin des Jahres 2022“ auf. Und zwei weitere ihrer persönlichen Eigenschaften durften in der Auflistung ebenfalls nicht fehlen: „Ich bin verrückt und emotional auf eine gute Art und Weise. Auch deshalb unterscheide ich mich von anderen.“ Die Tischtennis-Welt ist jetzt verrückt nach ihr, ihrem Spiel und ihren Emotionen dabei.

Fun-Facts über Annett Kaufmann

  • Sie ist eigentlich Rechtshänderin. Tischtennis hat sie mit rechts und links angefangen zu spielen. „Weil unser langjähriger Trainer in Bietigheim-Bissingen Momcilo „Mozza“ Bojic selbst Linkshänder ist, meinte er: ‚Wieso sollen wir nicht mal eine Linkshänderin ausbilden?‘ Annett spielt übrigens beidseitig super“, verrät Schwester Alexandra.
  • Sie ist nicht nur ein Swiftie, der alle Texte kennt der US-amerikanischen Pop-Sängerin Taylor Swift kennt und vor Olympia zusammen mit Schwester Alexandra auf einem der Konzerte in München war, sondern singt überhaupt auch gut und gerne. Auch für Karaoke ist sie im Kreis ihrer Freundinnen zu haben.
  • Sie hat zu Hause in Bietigheim-Bissingen einen Kater, Timon (Kosename „Timosha“), der sie mag, obwohl sie so selten zu Hause ist.
  • Sie liest alle Bücher bzw. guckt alle Filme im englischen Original, vor allem Thriller und Krimis
  • Sie ist eigentlich in Wolfsburg geboren. In vielen Porträts und auch ganz lange bei Wikipedia stand fälschlicherweise „Landshut“ als Geburtsort. In Landshut kam Schwester Alexandra zur Welt. Die Ortswahl der Eltern war nicht zufällig. Landshut und Wolfsburg hatten hochklassig spielende Eishockey-Klubs.

Links

Liebe Leserin, lieber Leser
des SPORT-MEDIUMS – sport-rhein-erft.de,

 

wir freuen uns, wenn Sie unsere Arbeit mit einem monatlichen ABO in Höhe von 3,--€, 5,-- € oder 10,-- € unterstützen.

 

Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag